#shortstorydienstag

Kapitel 20-24


Geburtstag (Kapitel 20)

Nicole seufzte, bevor sie die Decke beiseite schob und ihre Beine aus dem Bett schwang. Noch war sie zu müde, um zu verstehen, was vor sich ging. Der Alarm läutete auf dem Nachtkästchen auf der anderen Seite des Zimmers. Klaus‘ war für die morgendlichen Weckrufe zuständig. Doch der Ton kam Nicole fremd vor.

 

Gähnend rieb sie sich die Augen und langte dann nach ihrem Smartphone. Das helle Display stach ihr unerbittlich in die Augen. Für einen Moment schloss sie diese, ehe sie blinzelnd auf die Anzeige starrte.

 

 

02:36

 

 

Sie zog die Brauen zusammen. Dann betätigte sie den Button unter dem Lautstärkeregler zweimal: Zuerst, um das Display auszuschalten, danach, um es wieder zum Leuchten zu bringen.

 

 

02:37

 

 

„Klaus?!“, sprach sie in die Finsternis hinter sich. Sein Telefon läutete erneut. Rief da jemand an? „Klaus!“

 

Er brummte, bewegte sich, schnarchte weiter.

 

„Klaus!“ Nun wurde sie zornig. Mitten in der Nacht geweckt zu werden, war eine Sache. Doch das Klingeln gehörte nicht zu ihr. Es war Klaus‘ und darum hatte er sich zu kümmern.

 

Nachdem er sich nicht rührte, schlug sie auf die Decke. Keine Reaktion.

 

Sie stieß sich vom Boden ab und fiel mit vollem Gewicht auf die Matratze zurück. Keine Reaktion.

 

Rasch zog sie sich kniend auf das Bett zurück und wippte kräftig auf und ab. Keine Reaktion.

 

„KLAUS!“, brüllte sie seinen Namen. Das tiefe Atmen setzte aus. Doch mehr geschah nicht. Nicole stieß einen wütenden Laut aus. Dann krabbelte sie zum Nachtkästchen und knipste das Licht an.

 

„Was?“ Klaus fuhr hoch. „Wie spät ist es?“ Sofort suchte seine linke Hand nach dem Telefon neben ihm. „Mich hat wer angerufen?“

 

„Tausendmal,“ beschwerte sich Nicole. Immer noch kniete sie auf dem Bett, die Fäuste mittlerweile in die Seiten gestemmt und mit einem bitterbösen Blick in seine Richtung. Das schien er jedoch gar nicht wirklich wahrzunehmen. Abgesehen davon, dass er seine Brille noch nicht auf der Nase hatte.

 

„SCHEISSE!“ Üblicherweise war er die Ruhe in Person, doch die Hektik, welche seinen Ausruf begleitete, ließ Nicole den Atem stocken. Sie bekam Herzrasen, bei seinem Anblick. Wie von Sinnen sprang er aus dem Bett und suchte seine Klamotten zusammen.

 

Nicole sank derweil mit verschränkten Armen gegen das Kopfteil des Bettes zurück.

 

„Was ist denn los?“, fragte sie, als Klaus sich ein Shirt über den Schädel zog.

 

 

Nachdem er sie ansehen konnte, schenkte er ihr ein entschuldigendes Lächeln. Anschließend holte er tief Luft: „Das Baby kommt!“


Am See (Kapitel 21)

Innerlich lächelnd blickte Stephan auf seine Begleitung auf der Picknickdecke zu seinen Füßen hinab. Sie schüttelte ihre Schultern, sodass ihr Brüste einladend auf und ab hopsten. Im nächsten Moment hielt er inne. Das Gefühl eines Déjà-vus überkam ihn. Wieso glaubte er, diesen Anblick bereits gesehen zu haben?

 

Die rotkarierte Unterlage auf der Wiese. Der Korb. Der Rotwein. Die Pose. Anja.

 

Hatte er den Verstand verloren? Hatte er zu viel Rotwein gehabt? Setzte ihm die Sonne zu?

 

Er riss sich von Anja los und hob seinen Blick in die Ferne. Die Oberfläche des Neusiedlersees glitzerte im hellen Licht. Schliff umrahmte das Ufer. Einen Schwanenfamilie schwamm vorbei. In der Ferne glitten Surfer wie Eisläufer über das Wasser. Eine friedliche Leichtigkeit übermannte Stephan, die jäh durch den Geruch von Anjas picksüßem Parfum und ihrer schrillen Stimme durchbrochen wurde.

 

„Geh, Stephan, kannst dich nicht ein Mal auf den Moment konzentrieren?,“ keifte sie. „Du denkst echt immer nur an deinen Job. Wennst wieder ein Wehwechen hast, kümmer‘ ich mich nimmer um dich!“

 

Mit nahezu schmerzhaft verzogenen Lippen blickte er auf seine „Freundin“ hinunter. Wie lange ging das nun schon zwischen ihnen? Und wie lange sollte es noch laufen? Er musste zugeben, dass sich Anja während seiner Genesung von dem widerlichen Bandwurm wirklich um ihn gekümmert hatte. Mit allem. Sogar die Wäsche hatte sie ihm gewaschen. Doch mehr als Dankbarkeit empfand er nicht für sie. Lust, ja, doch diese konnte er überall befriedigen, dazu benötigte er keine Zicke an seiner Seite.

 

„Hast du gesehen, wie schön ’s da ist?“ Er nickte mit dem Kinn auf den See hinaus. In den Sommerferien hatte er viel Zeit im Burgenland verbracht. Nahe des Naherholungsgebietes hatte seine Familie einen permanenten Wohnwagen gehabt. Es waren schöne Erinnerungen, die er hatte, wenn er daran zurückdachte. Vor allem kam Anja nicht darin vor.

„Ja, freilich,“ tat sie Augen rollend ab. „Am Meer is‘ es aber noch viel schöner.“

 

„Teneriffa?“, meinte er patzig.

 

„Oder Malediven,“ blinzelte sie zu ihm hinauf, während sie sich aus ihrer Bluse schälte. Sie trug die Wäsche, die sie unlängst zusammen gekauft hatten. Beim Aussuchen hatte sie Stephan scharf gemacht, nun empfand er so gut wie gar nichts dabei.

 

„Na sicher.“ Er schnaubte. „Soll ma dann auch gleich heiraten?“

 

Ihre Augen leuchteten auf. Ein Strahlen ergriff von ihrem ganzen Gesicht Besitz und sie schob sich auf ihre Knie.

 

„Meinst das ernst?“ Es war ein Hauch, der ihre Lippen verließ. „So in echt? So richtig?“

 

 

Das Lächeln in ihm erlosch vollständig. Stattdessen breitete sich Übelkeit in ihm aus. Hatte er Anja gerade einen Antrag gemacht?


Geschwisterzwist (Kapitel 22)

Paul zwirbelte ein Rastazöpfchen über seinem rechten Ohr. Lorenz räusperte sich unentwegt. Michaela kratzte sich an allen erreichbaren Stellen. Dass sie mit der Tür ins Haus gefallen war, tat ihr nun leid. Auf der Fahrt hatte sie sich überlegt, wie sie es ihren Geschwistern erklären konnte, was die einfachste Methode war, sie in Kenntnis zu setzen. Es gab eigentlich keine sanfte Variante. Es gab nur die Wahrheit. Dennoch hatte Nicole diese nicht sofort erzählen können. Sie brachte es nicht übers Herz, ihre jüngeren Geschwister leiden zu sehen. Schon gar nicht Lorenz, der ohnehin viel zu jung dafür war, mit solchen Nachrichten konfrontiert zu werden.

 

Deswegen hatte sie sich dazu entschlossen, den Dreien von ihrer Affäre mit Klaus zu erzählen. Dieses Geheimnis laut auszusprechen, war der erste Schritt, sich selbst der Realität zu stellen, die sie viel zu lange vor sich hergeschoben hatte. Schließlich wollte sie sich nicht damit befassen. Noch nicht.

 

Da Klaus jedoch seinen Pflichten als Vater nachkommen musste und mit ihr mehr oder weniger Schluss gemacht hatte, wusste sie nicht, an wen sie sich sonst wenden konnte. In Wien war niemand, dem sie sich anvertrauen wollte. Anja möglicherweise, doch die schwebte im Augenblick im siebten Himmel. Mit ihr über Herzschmerz und andere Krankheiten zu sprechen, machte absolut keinen Sinn. Zumal sie alles weitergetratscht hätte. Vor Anja war nichts und niemand sicher!

 

„Du hast also mit einem verheirateten Familienvater gevögelt,“ brachte Paul nach einer Weile des stillen Reflektierens doch noch über die Lippen. Es war keine Frage, die er äußerte, es war eine Feststellung. Paul fragte kaum. Alles, was er von sich gab, waren wohl überlegte Gedanken.

 

Michaela schnalzte ermahnend mit der Zunge. „Musst du so grausliche Worte verwenden?“

 

„Hättest du doch lieber mal ficken gesagt,“ nuschelte Lorenz von der Anrichte zu ihnen herüber.

 

„ENZI!“, schimpfte Michaela. „Redest du mit den Eltern auch so?“

 

„Geh, bitte, Michi,“ grummelte der Teenager genervt. „Wenn die Nini schon solche Sachen erzählt, werd‘ ich mich wohl einbringen dürfen.“

 

„Wir sind ja alle so entstanden,“ meinte Paul amüsiert. „Außerdem brauch‘ ich dich nicht daran erinnern, dass du selber Mama bist, Michi. Du weißt, wie das funktioniert.“

 

„Eben!“, triumphierte Lorenz, bevor er den Wasserhahn aufdrehte.

 

„Ihr seid’s unmöglich!“ Michaela sprang von dem altmodischen, blaubezogenen Stuhl in der Küche ihrer Eltern auf und trat ans Fenster. „Nini, du bist die Schlimmste von allen.“

 

„Eigentlich war das nur eine Ablenkung,“ murmelte Nicole betreten.

 

„Wovon?“ Lorenz drehte sich zu seiner älteren Schwester um. „Bist leicht schwanger von dem Typen?“

 

„Um Gottes Willen!“ Michaela schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Bist schwanger, Nini?“

 

„Schwanger schaust nicht aus,“ lächelte Paul Nicole zaghaft über den Kaffee hinweg zu. „Eher im Gegenteil.“

 

 

„Ich hab‘ Krebs,“ nickte sie und begann zu weinen.


Wagnis (Kapitel 23)

Stechend.

 

Eindringlich.

 

Unnachgiebig.

 

Diese waren nur drei und obendrein die freundlichsten Begriffe, welche Stephan durch den Kopf zuckten. Seit er seine Augen in die hellblauen seines Gegenübers gerichtet hatte, getraute er sich nicht, den Blick zu senken. Einerseits lag es an dem Paar Augen auf der gegenüberliegenden Tischseite, andererseits an dem, was da zwischen ihnen ruhte.

 

Ein Ring. Uralt, wie das Lokal, in welchem sie sich befanden. So sehr Stephan die Situation nervte, so sehr überforderte ihn das Schmuckstück. Darum hatte er nicht gebeten und ebenso wenig damit gerechnet.

 

Ihm wurde zugenickt.

 

Bekräftigend.

 

Aufmunternd.

 

Unterstützend.

 

„Das kann ich nicht annehmen.“ Wie belegt seine Stimme klang, stellte er fest, als er die ersten Worte seit Minuten von sich gab.

 

„Doch.“ Seine Mutter nickte ihm erneut zu. „Seit der Scheidung freu‘ ich mich drauf, dass ich den Ring endlich wem geben kann. „Aber, Mama,“ raunzte Stephan. „Hättest den nicht der Miriam schenken können?“

 

„Die Miriam weiß ja selber nicht, was sie tut,“ erklärte Monika ihrem Sohn nachdrücklich. „Ich wollt‘ immer, dass er an dich geht!“

 

„Den hat ja aber die Omi dem Papa-“, wollte sich Stephan weiter gegen den Verlobungsring auflehnen.

 

„Stepherl,“ unterbrach ihn seine Mutter sofort, „der Papa hat den Ring dann mir gegeben und ich kann damit machen, was ich will.“

 

„G’hört der auch zu deinem Anteil aus der Scheidung?“, witzelte Stephan. „Kannst mir gleich erklären, wie das geht.“

 

„Jetzt sag‘ amal!“ Monika schnalzte mit der Zunge. „Ihr seid’s net amal noch vor dem Altar gewesen, und du redest schon von Scheidung?“

 

„Altar?“ Wie weit seine Augenbrauen nach oben wandern konnten, wenn er es nicht kontrollierte. „Mama, wir gehen aufs Standesamt.“

 

„Ihr müsst’s kirchlich heiraten!“, erklärte Stephans Mutter in einem Ton, der keinerlei Widerworte zuließ.

 

„Was das kostet!“, schnaubte Stephan. „Dann will die Anja noch ein Kleid …“

 

„Das zahlt ja wohl der alte Pospischil,“ setzte Monika voraus. „Ich versteh‘ eh nicht, dass ihr’s so eilig habt’s. Früher waren wir immer ein bisserl verlobt, bevor …“

 

Monikas Augen wurden riesengroß, als sie für eine Pause auf den Ring hinabsah. Dann holte sie theatralisch Luft. „Oder is‘ die Anja schon schwanger?“

 

Das Strahlen in den Augen seiner Mutter hätte aus einem verunglückten AKW stammen können. Es ließ Stephan innerlich schaudern. Kinder? Mit Anja? Die Hochzeit schien schon so seltsam falsch zu sein. Wie hätte sich das wohl bei Nachwuchs angefühlt?

 

„Nein,“ stellte er so fest wie möglich klar. „Und bevor du jetzt irgendwas wegen dem Alter sagst: Wir lassen uns Zeit. Punkt.“

 

„Gut.“ Ein Hauch von Kälte schlich sich in Monikas Stimme. „Ich will trotzdem, dass du den Ring nimmst. Punkt.“

 

 

Während sie die Ringschachtel zuklappte und dem Ober nach der Rechnung winkte, verdrehte Stephan die Augen.


Reisevorbereitungen (Kapitel 24)

Erneut blinkte ihr Handy auf dem Tisch neben ihrem Bett auf, womit es Nicole verriet, dass eine weitere Nachricht eingetroffen war. Wahrscheinlich von Lorenz, der sich bislang nicht gemeldet hatte. Doch sie sah es ihm nach. Er war zu jung, um sich ständig Gedanken um seine älteste Schwester machen zu müssen. Seine heile Welt war durch sie ohnehin schon angeknackst genug.

 

Das Leintuch unter ihr fühlte sich rau an. Etwas anderes hatte sie sich aber auch gar nicht erwartet. Zumindest war das Bett annähernd bequem. Auch die Farbe der Wände war überraschenderweise einladend hell und verströmten eine gewisse Geborgenheit, die sie im Moment nur aus Erinnerungen kannte. Nicole fühlte sich nicht geborgen. Ganz im Gegenteil war sie angespannt, nervös und den Tränen nahe.

 

Seit sie ihren Koffer gepackt hatte, war ihre innere Gelassenheit schlagartig verschwunden. Üblicherweise legte sie einen Optimismus an den Tag, der noch in den dunkelsten Momenten ein kleines Licht warf. Dies hatte sich geändert. So wie sie sich verändert hatte.

 

In ihrer Brust hämmerte ihr Herz viel zu abgehakt, mal schneller, mal langsamer, doch niemals ruhig genug, um sie ein wenig herunterfahren zu lassen. Um sich abzulenken, ging sie noch einmal alles durch: Toiletttasche mit Zahnputz- und Duschutensilien, Reservebrille, unnötige Unterwäsche, bequeme Kleidung, Socken, Hausschuhe, Kreuzworträtselheft mit funktionstüchtigem Kuli, ein Buch, Ladekabel, Kopfhörer, Marshmallows.

 

Die Packung mit den Süßigkeiten hatte ihr Michaela geschenkt: „Weil du die einzige bist, die das Zeug in Lebendgewicht isst.“ Immerhin hatten die Geste und die neckenden Worte ein schwaches Lächeln in Nicoles Gesicht gezaubert. Auch in diesem Moment fühlte sie sich etwas weniger nach Weinen.

 

Hätte sie etwas zu sich nehmen dürfen, wäre die Packung wahrscheinlich bereits leergewesen, doch sie hatte sich nüchtern im Krankenhaus einfinden müssen. Dass ihre Zimmerkollegin ihr unangerührtes Mittagessen vor sich stehen hatte, empfand Nicole als Frechheit. Andererseits wusste sie, dass es ihrem Gegenüber gleich beschissen ging, wie ihr selbst, weswegen sie es der Mittvierzigerin nicht übelnahm. Zumindest nicht persönlich. Schließlich hatte sie Hunger.

 

 

Der Gedanke überraschte sie positiv: Hunger bedeutete, dass ihr Körper leben wollte. Dieses erste Zeichen ließ sie ein wenig aufatmen. Wenn ihr Körper danach trachtete, zu überleben, sollte sie darauf hören. Immerhin war sie hier, um ihrem Leiden ein Ende zu setzen. Zugleich bedeutete die anstehende Operation ein weiteres Ende. Bis vor wenigen Wochen hatte Nicole nicht darüber nachgedacht, jemals keine Kinder haben zu können. Sie wollte immer welche, nur wann, hatte sie nicht entschieden gehabt. Diese Entscheidung war ihr nun abgenommen worden. Vor ihr lag der Beginn eines neuen, angstmachenden Lebens.

Inhalte von Powr.io werden aufgrund deiner aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt. Klicke auf die Cookie-Richtlinie (Funktionell und Marketing), um den Cookie-Richtlinien von Powr.io zuzustimmen und den Inhalt anzusehen. Mehr dazu erfährst du in der Powr.io-Datenschutzerklärung.