#shortstorydienstag

Kapitel 5-9


Lagerfeuer und Kamin (Kapitel 5)

 Mit gerunzelter Stirn und einem verdrossenen Seufzen las er die E-Mail seiner Schwester erneut durch. Doch auch beim dritten Mal wurden ihre Worte nicht weniger hartnäckig. Tatsächlich fragte sie an, ob Stephan auch in diesem Sommer mit der gesamten Familie auf die altbewährte Almhütte fahren wollte. Miriam war inzwischen dreifache Mutter und garantiert erneut schwanger, wenn sie die Wahrscheinlichkeitsrate ihrer offenbaren Fruchtbarkeit und Promiskuität weiterhin erfüllte.

 

Stephan wunderte sich nach wie vor darüber, dass Mutti zu Miriam hielt und diese nicht schon längst enterbt hatte. Andererseits hatte seine kleine Schwester es binnen weniger Jahre geschafft, die Eltern mit Enkeln zu versorgen – und diese mussten später schließlich etwas zum Leben haben. Enterben kam also nicht in Frage. Außerdem hielt er Miriam zugute, dass sie, trotz ihrer Lebensumstände, nicht auf Kosten des Staates lebte, sondern ihren beruflichen Alltag mit den Kindern (und Muttis Unterstützung) meisterte. Ihr Elternhaus in Korneuburg war glücklicherweise groß genug, um die Kinder mit Mutter und Großmutter darin unterzubringen.

 

Wäre Miriam nicht vor sieben Jahren zum ersten Mal schwanger geworden, hätte Stephan ebenfalls noch zu Hause gewohnt. Der Dank seiner finanziellen Mittel ausgebaute Dachboden war sein Reich gewesen. Er hatte sich den offenen Raum wie ein Loft gestaltet, mit einer freistehenden Edelstahlbadewanne, verchromten Armaturen in der Küche und der besten Couch der Welt. Doch mit dem ersten Anzeichen von Babyauswurf und der drohenden Störung seiner Nachtruhe hatte er sich dazu entschieden, in die Stadt zu ziehen. Küche und Sofa hatte er mit nach Wien genommen; der Badewanne hatte er traurig Servus gesagt.

 

Während Miriams zweiter Schwangerschaft hatte sich auch Papa aus dem Staub gemacht. Angeblich ertrug er Mutti nicht mehr, doch Stephan vermutete, dass es an den Kindern lag. Immerhin ließen sich die Eltern nicht scheiden, sie lebten nur vorübergehend getrennt. Das sagte so viel mehr aus, als die beiden jemals laut gesagt hätten. Doch im Gefühleausdrücken waren sie noch nie besonders begabt gewesen. Und dieses Talent hatten sie ihren Kindern vererbt. Darüber beschwerte sich Stephan jedoch nicht. Am liebsten war er ohnehin mit sich selbst und machte deswegen auch alles mit sich selbst aus. Es war die perfekte Beziehung mit sich selbst. Lediglich seine Couch konnte gelegentlich dazwischenfunken.

 

Wieder seufzte er, ehe er den Nachsatz im Mail seiner Schwester las: p.s.: du kannst deine freundin urgern mit nehmen. Wir wollen sowieso auch amal a lagerfeuer machen.

 

Für einen Moment war er versucht, Miriam mit einem simplen Welche Freundin? zu antworten und ihre eigentlichen Fragen zu ignorieren. Denn auf diese hatte er noch keine Antwort. Vorigen Sommer hatte er sich gekonnt vor der Verantwortung des gemeinsamen Familienurlaubs am Semmering drücken können. Ein riesiger Auftrag hatte seine volle Aufmerksamkeit verlangt und ihm eine entsprechend lukrative Provision verschafft. Hätte er auch nur einen Tag freigenommen, wäre das Projekt in die Hände von jemand anderem im Haifischbecken gewandert und Stephan hätte durch die Finger geschaut. Der Erfolg hatte ihm sogar den Posten des Teamleiters eingebracht. Am Rande hatte die Pensionierung seines Vorgängers vielleicht auch etwas damit zu tun gehabt …

 

Bei der Erinnerung brach ein Schmunzeln Stephans streng verzogene Lippen. Seine harte Arbeit hatte sich nach all den Jahren bezahlt gemacht. Möglicherweise war es das einzige, worauf er in seinem Leben wirklich stolz war. Doch er liebte seinen Job, die Arbeit mit seinen Kunden, deren Akquise und die gemeinsamen Dinner mit ebenjenen. Vielleicht lag es daran, dass sie ein oberflächliches Verhältnis mit abgesteckten Grenzen verband, einen eindeutigen Anfang und ein absehbares Ende hatten und er damit seinen Lebensunterhalt mit vielen Annehmlichkeiten verdiente.

 

Ein Urlaub in einer alten Holzhütte auf einem Berg mit seinen Eltern, Miriam und den Kindern fühlte sich einfach nicht nach seinem Lebensstandard an. Außerdem waren Liam, Jason und Emily nervig. Allein schon ihre Namen waren es, doch Stephan hatte dabei kein Wörtchen mitreden dürfen. Nicht einmal bei Liam, dessen Taufpate er war. Der Junge war auch nur halb so anstrengend wie seine kleinen Geschwister.

 

Wenn Stephan länger darüber nachdachte, mit seiner Familie auf Urlaub zu fahren, fiel ihm nur ein Grund dafür ein: der Kachelofen in der Stube, in welchen Hänsel und Gretel seinerzeit die böse Hexe gesteckt hatten. Ob die Öffnung tatsächlich groß genug war, um einen Menschen dort durchzuschieben?

 

Im selben Moment bemerkte er, dass der Ofen im Sommer wohl nicht in Betrieb genommen wurde. Somit konnte er sich nicht einmal darauf ausreden, Feuerholz holen zu gehen, um an die frische Luft zu gelangen und eine zu rauchen. Miriam hasste es nämlich, wenn er vor den Kindern, in der Nähe der Kinder oder in möglicher Sichtweite der Kinder, selbst wenn diese schliefen, eine Zigarette vernaschte. Dabei hatte Miriam selbst geraucht, bis sie von ihrer Schwangerschaft mit Liam erfahren hatte. Ab diesem Moment war sie zu einem Mamamonster mutiert, das Stephan oftmals nicht wiedererkannte.

 

Darüber zerbrach er sich jedoch ebenfalls schon seit längerer Zeit nicht mehr den Kopf. Nach Jasons Taufe hatte er aufgegeben, die Entscheidungen seiner Schwester zu hinterfragen. Lediglich ihre Absichten bezüglich des Familienurlaubs verstand er noch immer nicht. War ihr nach all den Jahren noch immer nicht bewusst, dass Stephan den Abstand suchte? Sollte er Miriam das einfach sagen, damit sie begriff, was in ihm vorging?

 

 

Schwesterherz, danke, dass du auch heuer an mich denkst, aber mir wird das zu stressig. Wenn wir nächstes Jahr ans Meer fahren, bin ich vielleicht dabei.

Bussi, dein Bruderbär


Faschingszeit (Kapitel 6)

Liebster Santa,

 

nach all den Monaten ist es mir immer noch peinlich, dass ich deine Verkleidung am Faschingsdienstag nicht sofort verstanden habe. Dabei war sie so gelungen. Ein kostümierter Wortwitz. So hast du es doch genannt? Mit deinem Namen zu spielen und dir einen Heiligenschein aufzusetzen – wer kommt denn schon auf eine solche Idee, um den „Weihnachtsmann“ darzustellen? In einer weißen Kutte und mit Birkenstocks …

 

Du bist der intelligenteste, witzigste und liebste Mann, den ich je kennen gelernt habe. Über die Maßen fürsorgend und hilfsbereit, hast du stets ein positives Wort und ein offenes Ohr für jeden übrig. Wie kann man nur so unglaublich aufopfernd und hingebungsvoll sein? Haben dir das deine Eltern beigebracht?

 

Ich habe es dir nie gesagt, aber ich hätte wirklich in Erwägung gezogen, dich vom Fleck weg zu heiraten. Wäre ein Flieger gegangen, hätte ich dich nach Las Vegas entführt. Natürlich nicht nur, um dir das Ja-Wort abzunehmen, sondern auch, um ein paar Tage im Ausnahmezustand zu verbringen. Nach drei Tagen im Bett hätten wir es vielleicht einmal ins Casino geschafft.

 

Danach hätte ich mich wieder von dir flachlegen lassen. So oft, bis ich meinen Verstand verloren hätte. Bis kein Tropfen Flüssigkeit mehr in mir gewesen wäre, den ich noch hätte schwitzen oder sonst wie verlieren können. Ich hätte mich von dir im Whirlpool mit Schaumwein bespritzen lassen, bevor ich dir einen geblasen hätte. Einfach, weil du so gut schmeckst. Wir hätten sündteuren Champagner aus nicht weniger exquisiten Gläsern geschlürft und klirrend miteinander angestoßen – auf die Ringe an unseren Fingern. Auf dich. Auf mich. Auf das Leben, die Liebe und die Lust.

 

All das hätten wir getan, wenn da nicht deine Familie wäre. Deine ahnungslose Frau, deine drei Kinder, deine demente Mutter, deine Hunde. Die Verpflichtungen. Die Verantwortung. Die Hingabe.

 

Ach, mein lieber Klaus, danke, für diese unvergessliche Faschingsfeier. Danke für diese eine Nacht, in der wir uns mit allen Sinnen erlebt haben. Bis heute habe ich deinen Geschmack auf der Zunge, wenn ich daran denke. Nie habe ich das leise Stöhnen vergessen, dass du mir ins Ohr gehaucht hast, als du mich morgens noch einmal geliebt hast.

 

Es tut mir leid, dass ich es war, mit der du deine Frau betrogen hast. Es tut mir leid, dass wir nicht mehr Zeit miteinander hatten. Es tut mir leid, dass ich dich nicht für mich haben konnte. Doch wir hätten keine Zukunft gehabt. Darum ist es gut so, wie es ist.

 

 

Ich liebe dich!

 

Deine Nicole


bEWERBUNG (Kapitel 7)

Immer wieder verließ ein Brummen Klaus‘ Kehle. Auch wiegte er ab und zu seinen Kopf. Ganz sacht. Wie er es immer tat, wenn er mit einer von Stephans Entscheidungen nicht konform ging. Oder von einer Idee nicht überzeugt war. Doch Klaus hätte niemals laut geäußert, dass ihm etwas missfiel. Schließlich war er Stephans Assistent und fügte sich der Entscheidung seines Chefs. Sobald man ihn jedoch darauf ansprach, tat er seine Meinung kund.

 

Stephan musste zugeben, dass die derzeitigen Entscheidung wirklich keine einfache war. Eigentlich ging es Klaus auch nichts an, doch Stephan vertraute auf dessen Einschätzung. Zu oft hatte sein Assistent schon den richtigen Riecher für Kunden oder Aufträge gehabt, um ihn in diesem Moment nicht ins Boot zu holen. Allerdings konnte ihm Klaus das letzte Wort nicht abnehmen.

 

„Warum fragst du überhaupt mich?“, wollte Klaus wissen, als er sich die letzte Bewerbung durchgelesen hatte und die gesammelten Unterlagen sauber geordnet auf den ovalen Besprechungstisch zurücklegte.

 

„Anja aus der HR hat mir die Topkandidaten gegeben,“ erklärte Stephan, bevor er einen Schluck von seinem Kaffee trank. „Damit ich entscheiden kann, wen wir zur zweiten Runde einladen.“

 

Anja?“ Klaus‘ Art etwas Wertendes nicht wertend klingen zu lassen, rechnete Stephan ihm hoch an. „Du meinst die Pospischil? Seit wann bist du mit der per du?“

 

„Seit Fasching …“ Stephan zog verheißungsvoll die Augenbrauen nach oben, während sich Klaus knapp räusperte.

 

„Aha,“ hustete der Assistent und widmete sich wieder den Unterlagen.

 

Das darauffolgende Schweigen wurde lediglich vom Rascheln der Zettel in Klaus‘ Händen und dem Klimpern der Tasse beim Abstellen auf den Tisch unterbrochen. Stephan genoss diese kurze Pause zwischen all der Hektik seines Jobs. Zwar hätte er lieber gerne eine Zigarette geraucht, doch die Stille des Moments konnte mit dem eifrigen Geschnatter der Rauchenden im Freien gerade ganz gut mithalten.

 

„Was ist mit dem?“ Klaus schob einen Bogen über den Tisch.

 

„Der mit den Rastazöpfen?“, meinte Stephan naserümpfend. „Der kifft mehr, als er arbeitet …“

 

„Dreadlocks,“ korrigierte Klaus ihn nebenbei. „Er hat ein abgeschlossenes Studium-“

 

„Für das er sicher doppelt so lang gebraucht hat, wie alle anderen,“ unterbrach Stephan seinen Assistenten.

 

„Das er in kurzer Zeit abgeschlossen hat,“ erklärte Klaus gelassen. „Er hat seinen Master in politischer Ökonomie in Graz gemacht.“

 

„Kiffer,“ stellte Stephan fest.

 

„Okay.“ Fast schon lächelnd griff Klaus nach den nächsten Bewerbungsunterlagen. „ich finde, dass sich Frau Ajshe Bardhi mit ihrer Praxis qualifiziert.“

 

„Ich kann den Namen nicht einmal aussprechen,“ beschwerte sich Stephan augenblicklich. „Wie sollen das dann unsere Kunden machen? Wo kommt die eigentlich her?“

 

„Stephan.“ Klaus atmete tief ein und sah seinen Chef direkt an. „Wenn du dich nur auf Äußerlichkeiten, Herkunft und einfache Namen beschränkst, und dir eine Ausbildung oder berufliche Erfahrungen egal sind, empfehle ich dir Mia Gruber. Keine abgeschlossene Ausbildung, wenig Praxis, Mitte zwanzig, keine Kinder, tiefes Dekolleté.“

 

„Keine Kinder in dem Alter?“ Stephan verzog das Gesicht.

 

„Das ist alles, was dir dazu einfällt?“, wurde Klaus nun doch etwas hitziger. „Ich unterstütze dich gern bei dieser Aufgabe, auch, wenn es meine Qualifikation eigentlich nicht gestattet. Und Frau Pospischil … Anja! … wäre bestimmt nicht begeistert davon, wenn sie das weiß.“

 

„Du bist mein Assistent. Wenn ich dich um Rat bitte, dann bitte ich dich um Rat. Schließlich geht es um einen Kollegen fürs Team. Mit dem müssen wir dann alle gut zusammenarbeiten können,“ warf Stephan ein.

 

„Einen Mann also?“ Klaus sortierte ein paar Bewerbungen aus und machte einen Stapel auf dem Tisch.

 

„Mir ist es egal, ob männlich oder weiblich,“ sagte Stephan, während er Klaus interessiert zusah. „Was machst du da?“

 

„Männer und Frauen sortieren,“ erklärte Klaus sachlich.

 

„Das können wir nicht machen.“ Stephan verlangte mit einem Wink die Unterlagen zurück. „Ich werde beim nächsten Mal Blindbewerbungen verlangen.“

 

„Das war das Konstruktivste, das du bisher gesagt hast.“ Klaus lehnte sich für einen Augenblick in seinem Stuhl zurück.

 

„Soll ich mir gleich einen neuen Assistenten suchen?“ Stephan legte die Bewerbung von Mia Gruber augenblicklich beiseite. Er verstand nicht, aus welchem Grund Anja ihm diese überhaupt zur Auswahl gestellt hatte. Wahrscheinlich waren sie verwandt.

 

Er hatte sich nicht vorgestellt, dass die Auswahl für einen kurzweiligen Klaus-Ersatz derart schwerfallen könnte. Es stimmte natürlich, Stephan vertraute keinem so sehr, wie seinem Assistenten. Sie waren ein eingespieltes Team, Klaus wusste, wie er mit Stephan umzugehen hatte und Stephan kannte Klaus‘ Belastungsgrenze. Doch der Familienvater nahm sich für die Geburt seines dritten Kindes eine längere Auszeit und wollte danach nicht mehr Vollzeit arbeiten. Daher musste eine Vertretung für Klaus engagiert werden.

 

„Was hältst du davon, wenn ich dir die wichtigsten Daten vorlese, den Namen aber weglasse?“, schlug Klaus vor, ohne auf Stephans Hänselei einzugehen.

 

„Das ist eine Spitzenidee,“ begeisterte sich Stephan sofort dafür. „Du bist eingestellt!“


Post und Paket (Kapitel 8)

Meine liebe Marie,

 

falls du bereits in die Box geschaut hast, wirst du einiges gefunden haben, dass dich zum Lächeln bringt. Ich habe beim Durchforsten gar nicht glauben können, was ich alles zu Tage befördern konnte. Gefühlt haben wir jedes Brieferl, das wir in der Schule geschrieben haben, aufgehoben. Was haben wir uns denn dabei gedacht? Das meiste kann ich schon gar nicht mehr lesen.

 

Die Abkürzungen: SZ, ZS – weißt du noch, was das geheißen hat? SZ bedeutet wohl „schreib zruck“, aber ZS?

 

Deine Schrift hat sich über all die Jahre kaum geändert. Sie ist erwachsener geworden, doch die runden Vokale und die geschwungenen Bögen unter der Zeile sind dir geblieben. Meine Schrift habe ich nach all der Zeit kaum wiedererkannt. Wohin ist das Kindliche verschwunden? Wann hat es der Hektik Platz gemacht? Wahrscheinlich hat die Uni ihren Tribut gezollt – eine schnelle, leserliche Handschrift war im Studium eben sehr vorteilhaft.

 

Falls du jetzt die Dose gefunden hast und endlich begreifst, dass der intensive Geruch daher kommt, gratuliere ich dir. Solltest du es sogar wagen, eines der Minzzuckerl in den Mund zu stecken, bist du meine ewige Heldin. Ich habe mich nicht getraut. Mir hat es damals schon so davor geekelt und das hat sich bis zum Schluss nicht geändert.

 

Weißt du noch, wer von uns beiden auf die Idee gekommen ist, ab sofort Minzzuckerl zu naschen? Ich vermute, dass du das warst. Wer kommst sonst auf die Idee, grindige Bonbons zu kaufen, von denen man noch nie im Leben eines gekostet hat? Ehrlich, unsere erste Zigarette war nicht so grauslig, wie diese ekelhaften Drops. WÄH! Wenn ich sie rieche, wird mir schon schlecht. Aber wir haben sie tapfer gelutscht und so getan, als wären wir supercool. Und dann haben wir auch noch geglaubt, dass sie den Zigarettenrauch übertünchen würden.

 

Meine Mama haben wir ja vielleicht noch irgendwie an der Nase herumgeführt. Aber deine nicht. Sie war so zornig! Ich steh so drauf, wenn sie die Geschichte auspackt. Man kann dann ihre Wut immer so hervorragend nachempfinden. Außerdem finde ich es schön, dass wir irgendwann zusammen darüber gelacht haben. Du, sie und ich.

 

Dass sie es meiner Mama nie erzählt hat, rechne ich ihr nach wie vor sehr hoch an. Bitte, richte ihr ein großes Dankeschön dafür aus. Überhaupt für alles, was sie für uns getan hat …

 

Kannst du dich noch daran erinnern, was Nini Tata bedeutet hat? Unsere erste große Starliebe: Nick Carter! Was haben wir ihn angehimmelt. Die blonden Haare, die blauen Augen. Ach, ich war so verliebt in ihn und die Band. Du hast ja immer mehr zu Botox Boy Kevin tendiert, aber der Gruppenzwang in der Klasse hat dich eben auch zu unserem Nini Tata getrieben.

 

Dafür hast du dann bei Elijah zugeschlagen. Ich musste so lachen, als ich den Ordner aus der Box gezogen habe. Lij hast du darauf geschrieben und tausende kleine Herzchen drumherum gemalt. Er hat es dir wirklich angetan. Und in weiterer Folge mir. Dabei hat mir Tom Welling immer eine Spur besser gefallen. Vielleicht auch, weil Elijah so klein ist und einen Hobbit gespielt hat, während Tom SUPERMAN war.

 

Okay, okay, beide waren Helden in ihrem Universum, schon klar. Beide haben sie ihre dunklen Löckchen und ihre riesigen blauen Augen. Ach, sie waren so schön für uns. Wir haben nächtelang darüber geredet, was gewesen wäre, wenn sie uns getroffen hätten. Ich vermisse diese Zeit. Diese Unbeschwertheit. Diese Naivität. Diese Leichtigkeit.

 

Nun, da du dieses Päckchen von mir bekommen hast und diese Zeilen liest, weißt du, dass du mich in ein paar Jahren genau dort finden wirst. Oder an dem Campingplatz am Bodensee, wo wir im Sommer immer hingefahren sind. Die Federn müssen von dort sein. Auf einem Kiel steht etwas, ich glaube, ich habe damals versucht, ein Datum darauf zu kritzeln. Das ist mir aber misslungen.

Bis heute weiß ich nicht, von welchem Vogel die Federn stammen. Für uns waren sie jedenfalls der größte Schatz. Weil sie so schön und sauber waren. Wir haben den Tieren Namen gegeben, an die ich mich gar nicht mehr erinnere. Aber es waren schöne Phantasienamen. Vielleicht fällt dir ja einer ein.

 

Eine Feder habe ich mir behalten. Ich trage sie bei mir und denke an dich und unsere Freundschaft. Niemanden habe ich so lange gekannt wie dich, Marie. Eigentlich bist du der größte Schatz, den ich im Leben gefunden habe. Danke für deine Treue und deine unumstößliche Freundschaft.

 

 

Wir sehen uns am Bodensee!

 

 

In Liebe

 

Nicole


Frühjahrsputz (Kapitel 9)

Minutenlang war sein Blick nun schon auf den Namen in seiner Kontaktliste geheftet.

 

Jennifer.

 

Etwas klingelte ganz hinten in seiner Erinnerung. Doch er konnte es nicht greifen. Was es auch war, es wollte nicht in den Vordergrund dringen. Jennifer.

 

„Jennifer.“ Er sprach den Namen bewusst aus. „Jen-ni-fer.“

 

Wer war sie?

 

Stephan hatte es sich zur Aufgabe gemacht, einmal im Jahr, zumeist in der Fastenzeit, da er in den vierzig Tagen auf Alkohol verzichtete und somit auch nicht fortging, jegliche Telefonnummern von One-Night-Stands zu entfernen. Um nach Ostern erneut der Fleischeslust zu verfallen.

 

In den letzten Monaten hatte er nicht viele Frauen gedatet oder abgeschleppt. Anja war die letzte gewesen. Ihre Nummer konnte er jedoch nicht löschen. Weder an diesem Tag, noch irgendwann sonst. Außer, sie schied aus dem Unternehmen aus.

 

Davor war es eine Melanie gewesen, die er auf einer Silvesterparty kennengelernt hatte.

 

Den Namen der Rothaarigen zu Halloween hatte er sich nicht gemerkt. Doch Stephan wusste, dass er nicht Jennifer lautete.

 

Das entzückende Wesen im dicken Strickpullover bei dreiundzwanzig Grad am letzten schönen Herbsttag vor dem ewigen Regengrau, das er in einem Coffeeshop an der Kassa getroffen hatte, war Skandinavierin gewesen. Maibritt. Oder so ähnlich. Ganz bestimmt aber war es keine Jennifer gewesen. Ihre Nummer hatte er nach einer schnellen Nummer bedauerlicherweise nicht notieren dürfen.

 

Vor Maibritt hatte er sich im Sommerurlaub in Lignano vergnügt. In den beiden Wochen hatte Stephan weder gezählt, noch sich die Namen der Signorinas gemerkt. Giulietta war eine Ausnahme geblieben. Abgesehen davon, dass sie älter war, als sein Urlaubsdurchschnittsfick, hatte sie ihn durchaus überrascht. Mit Stellungen für die andere zu gehemmt waren. Oder Spielchen, für die anderen der Mut fehlte. Bis er Giulietta getroffen hatte, war Stephan noch nicht einmal bewusst gewesen, dass es Dinge gab, die ihm tatsächlich gefielen. Sich den Hintern versohlen zu lassen war schließlich keine Alltäglichkeit. Dafür umso geiler.

 

Dreckig grinsend schluckte er den angestauten Speichel in seinem Mund hinunter und ließ Jennifer hinter sich. Er scrollte weiter, bis er auf weitere private Nummern stieß. Rasch hatte er Petra, Renate und Simone gelöscht.

 

Und mit diesen drei Damen endete die Säuberung.

 

Drei.

 

In seinem Hinterkopf juckte ihn erneut eine Erinnerung. Jennifer. Drei.

 

Dreier?

 

„Ah!“, entfuhr es ihm, als ihn der Gedanke überrollte. „Jenny!“

 

Sie war eine Bekannte von Stephans Ex Claudia gewesen. Gegen Ende ihrer Beziehung hatten sie einmal darüber gesprochen, ihr Sexleben zu defibrillieren. Claudias Vorschlag war ein Dreier gewesen. Mit Jennifer. Doch dazu war es schlussendlich nie gekommen. Zumindest war Jenny gekommen. In Stephans Bett. Beim Eiersuchen kurz vor Ostern. Denn er hatte sich ihre Nummer behalten, nachdem Claudia sie ihm gegeben hatte, um ein Treffen zu vereinbaren.

 

 

Vielleicht war es gar nicht so verkehrt, die eine oder andere Telefonnummer doch für mehrere Jahre aufzubewahren …


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